Heft Nr. 42 • Oktober 2019 • SCHWERPUNKT: INDIVIDUATION

Heft 41
Heft 41 xs
 
Inhalt (Auszug):
Bernd Leibig: Individuation in Zeiten der Selbstoptimierung
Gerhard M. Walch: Erich Neumanns „Ursprungsgeschichte des Bewusstseins“ als Orientierung auf dem Weg der Individuation
Gidon Horowitz: ... Weib und Mann reichen an die Gottheit an ... | Individuation und Einweihung in Mozarts Oper „Die Zauberflöte“
Ernst Peter Fischer: Wenn nicht nur Zahlen und Figuren
Dorothea Ensel: Spielen, lachen, begegnen. Individuationsprozesse im Psychodrama
Stefanie Nahler: Auf der Suche nach einer Heimat – Trauma, Individuation und deren Symbolik in Psychotherapien mit jungen Menschen
Renate Daniel: Das Selbst
Ralf T. Vogel: Gelebtes Leben bis zum Tod – jungianische Gedanken zur Lebendigkeit des Lebensendes
Brigitte Dorst: Selbstwerdung auf dem Sufi-Weg
Mai Dürr: Individuation und Mystik
Klaus-Uwe Adam: Der Individuationsprozess im Spiegel der Chakren
Eugen Drewermann / Ludger Verst: „Wir heilen nur durch Liebe“. | Gespräch über Hermann Hesse und die Bedeutung seelischer Bilder in Dichtung und Religion
Dieter Volk: Wilde Erdbeeren. Film von Ingmar Bergmann
Katrin Kranz, Volker Gapp, Wolfgang: Nudging als Möglichkeit zur Verbesserung der eigenen Gesundheit und der gesundheitspsychologischen Versorgung?
 
Editorial:
 
Liebe Leserinnen und Leser,

Nach den heute gängigen Vorstellungen der Analytischen Psychologie C. G. Jungs wird unter Individuation die seelische Entwicklung eines Menschen zu einer eigenständigen und selbstverantwortlichen Person verstanden.
 
Individuation meint einen psychischen Differenzierungs- und Integrationsprozess, der die Entfaltung der Fähigkeiten, Anlagen und Potentiale eines Individuums durch stufenweise Bewusstwerdung und Realisierung des SELBST zum Ziel hat und durch den wir zu demjenigen Menschen werden, der wir von unserem Wesen, unserer individuellen Eigenart her sind.
 
Mit einem solchen Potentialentfaltungsprozess – dem „principium individuationis“ – haben sich natürlich schon viele Philosophen beschäftigt, z. B. Aristoteles, Albertus Magnus, Thomas, Leibniz, Spinoza, Nietzsche. Auch in den meisten psychologischen Richtungen ist dieses „Sei oder werde, der Du bist“ ein zentrales Konzept.
 
Als Spezifikum tritt bei C. G. Jung allerdings die Betonung auf eine Berücksichtigung und engagierte Auseinandersetzung mit unbewussten Dimensionen der Psyche hinzu.
 
Zwei Arten der Individuation
Es lassen sich natürliche, weitgehend autonom und unbewusst verlaufende von bewusst begleiteten und geförderten Individuationsprozessen unterscheiden.
Unter relativ günstigen Umwelt-, Kultur-, Entwicklungsbedingungen und bei entsprechenden Begabungen kann sich ein Mensch auch ohne weitere Unterstützung ganz aus seinem Wesen heraus schöpferisch entfalten und zu einer stimmigen Einheit und Ganzheit finden.
 
Man kann dies bei alten, lebensklugen Menschen beobachten, die ihr Leben in heiterer Gelassenheit verbringen und ihren Frieden mit sich gemacht haben oder auch bei Künstlern, die eine Individuation – wenn nicht bei sich selbst – so doch in ihrem Werk vollzogen haben und damit vielen Menschen Hoffnung, Trost und Ansporn zu einem „höheren“ und sinnerfüllteren Leben waren.
 
Daneben gibt es den bewusst, unter Einbezug unbewusster Dynamiken gegangenen Individuationsprozess. Der Anstoß hierfür kann wieder in förderlichen Lebensbedingungen oder entsprechender psychologisch-philosophischer Interessenslage oder auch in den verschiedensten Lebens- und Sinn-Krisen liegen.
Durch Letzteres ist aber auch die eigentlich ungünstige Situation entstanden, dass viele wichtige Themen der Individuation vor allem im psychotherapeutischen Kontext erörtert wurden und wenig Anwendung bei einem breiteren Klientel oder in sozialen, kulturellen und politischen Zusammenhang gefunden haben.
 
Ausgespannt zwischen den Polaritäten des Menschseins
Wenn wir uns auf den Prozess der Individuation einlassen – sei es im Rahmen einer Selbsterfahrung, einer Therapie oder einer religiösen Suche – dann haben wir oft unrealistische und überhöhte Vorstellungen von ihr. Wir erhoffen uns vielleicht, alle unsere Leiden, Konflikte, Ängste, Unsicherheiten überwinden, oder zumindestens „in den Griff“ bekommen zu können oder wir möchten uns zu einem ganz besonderen, außerordentlichen Menschen entwickeln.
 
Das geschieht aber nicht, sondern zunächst fast eher das Gegenteil. Unsere Hoffnungen auf magische Heilung und Leidensbefreiung, unsere Fantasien der Größe, Vollkommenheit, Perfektion, Macht und des immer währenden Glücks erfüllen sich nicht. Es dauert oft lange, bis wir uns damit abfinden können, dass der Weg der Individuation in vielerlei Hinsicht auch ein Weg der Ent-Täuschung ist.
 
Die Auseinandersetzung mit den unbewussten Aspekten des SELBST erzeugt zunächst gerade jene Konflikte, die wir durch ihr Unbewussthalten zu vermeiden versucht hatten. Deshalb stürzt uns dieser Prozess häufig in einen Zustand der Konflikthaftigkeit, der Verunsicherung, der Hilflosigkeit und Desorientierung, der Dunkelheit. Wir gehen den leidvollen Weg der Kreuzigung, des Ausgespanntseins zwischen den Polaritäten der Psyche und den fast unerträglichen Widersprüchen des Lebens. Jeder Mensch, so meint Jung, der auch nur annähernd seine eigene Ganzheit sein möchte, weiß, dass sie eine Kreuztragung bedeutet. Und von daher sei es auch die eigentliche christliche Aufgabe für uns, nicht Christus nachzuahmen, sondern unser ureigenstes Kreuz auf uns zu nehmen und tapfer zu tragen.
 
Die zunehmende Erfahrung unserer Ganzheit bedeutet demnach keineswegs eine dauernde Ekstase oder einen fortwährenden Zustand glückseliger Erleuchtung. Auch ist sie kein Vollkommenheitszustand, sondern das bewusste Erleben und Erleiden unserer menschlichen Vollständigkeit in all ihrer Paradoxie, Alltäglichkeit, Gewöhnlichkeit, Durchschnittlichkeit und Unterdurchschnittlichkeit, so, wie das Leben eben wirklich ist.
 
Da sich in der Erfahrung des SELBST die verschiedensten polar-paradoxen Gegensatzspannungen versöhnen, stellt sich als dauerhafteres Resultat dieser Erfahrung ein seelischer Zustand mittleren Niveaus ein, der nichts überwältigend Großartiges, Bedeutungsvolles, Heiliges an sich hat, sondern viel eher in einfachen und schlichten Worten seinen Ausdruck findet: Dankbarkeit, Frieden mit sich selbst geschlossen haben, in sich ruhen, die Menschen und die Vielfalt des Lebens annehmen, wie sie sind, Leid vermindern und die Evolution zum Guten hin fördern wollen.
 
Natürlich kann es auf diesem Wege auch große, außerordentliche Erfahrungen geben, die man sich niemals „hätte träumen lassen“ können. Diese sind aber nicht von Dauer und bilden auch meist keine geeignete Grundlage für das alltägliche Leben in seiner Ganzheit. Sie können uns aber eine Orientierung und Hoffnung geben darauf, dass wir und die Menschheit eines Tages wirklich in der Lage sind, das unfassbare Geschenk des Daseins und das Wunder des Lebens richtig zu würdigen.
 
Die schöpferische Quelle
Das Einlassen auf den Individuationsprozess kann uns Lebenssinn und Lebensfülle vermitteln, denn in der Beziehung zum SELBST sind wir im Kontakt mit unserem ureigensten Wesen, der Quelle, dem Schöpferischen unserer Seele. Der daraus resultierende Lebenssinn ist aber kein statischer, sondern ein dynamischer, der sich dem Lebensprozess entsprechend ständig wandelt und auf jeder Altersstufe andere Formen annimmt.
 
Dies ist nun wiederum eine der Paradoxien der SELBST-Erfahrung, dass jener von uns angestrebte innere Frieden und jene gelassene Heiterkeit gerade im Wechsel und Wandel der verschiedenen Manifestationsformen des SELBST erfahren werden. Auf diese Weise wird dieses eine, letztlich unerkennbare SELBST in einer sich immer mehr annähernden Kurve umkreist, hinter all seinen Erscheinungsformen immer deutlicher erahnt, ohne je ganz erfahrbar zu sein, weil das Mysterium des SELBST unergründliche Weiten und Tiefen in sich schließt.
 
Der Analytischen Psychologie wird gelegentlich vorgeworfen, ihr Konzept des Individuationsprozesses führe zu einer Art narzisstischer, esoterischer Nabelschau, bei der der Blick für die gesellschaftliche Realität verloren gehe. Diese Auffassung beruht auf Unkenntnis und Missverständnissen und vor allem ist sie Ausdruck eines tiefen Misstrauens gegenüber der eigenen innersten seelischen Natur des Menschen.
 
Ein Entwicklungsprozess, der die Erfahrung der Ganzheit des Lebens zum Ziele hat und diese Ganzheit definiert als die Summe aller möglichen Gegensätze (z.B. männlich/weiblich, gut/ böse, Körper/Psyche, Natur/Kultur, Denken/Fühlen, Kollektivität/Individualität, Personales und Transpersonales usw.) kann niemals ohne Bezug zur und ohne Relevanz für die Gesellschaft sein.
 
Individuation ist in jeder Phase nur innerhalb eines Wechselspiels zwischen Individuum, Mitmensch, Gesellschaft und Umwelt möglich. Deshalb ist jeder wirkliche Fortschritt im Individuationsprozess immer zugleich auch ein Beitrag für die Gesellschaft und setzt diese voraus.
 
Unmittelbar evident ist das z.B. bei der Integration des Schattens, wodurch „das Böse“ nicht mehr vor allem im Außen, sondern als Teil der eigenen Persönlichkeit gesehen wird.
 
Ähnliches gilt auch für die Differenzierung der Animus-/Anima-Seiten der Persönlichkeit, wodurch die gegengeschlechtlichen Kommunikations- und Beziehungsprobleme ebenfalls nicht nur die Probleme des Partners bleiben, sondern zu den ureigensten werden.
 
Im Individuationsprozess wird der Mensch mit den Grundfragen des Lebens und des Menschseins konfrontiert. Diese Auseinandersetzung leistet er in Eigenverantwortung und überlässt sie keiner äußeren, gesellschaftlichen oder ideologischen Institution oder Autorität.
 
Er unterscheidet sich von seinen Mitmenschen nicht durch besondere, idealmenschliche Qualitäten, er fühlt sich im Gegenteil in besonders tiefer Weise mit ihnen verbunden („Nichts Menschliches ist mir fremd.“), aber besitzt vielleicht den Vorzug einer etwas größeren Bewusstheit und Selbstverantwortung gerade hinsichtlich des eigenen „Menschlich-allzu Menschlichen“.
 
Die Grundfragen des Menschlichen erfährt er als seine eigenen, er wird zunehmend allgemeinmenschlicher und individueller zugleich und dadurch, wenn alles gut läuft, toleranter, verständnis- und einsichtsvoller, liebevoller und humorvoller und, was vielleicht das Wichtigste ist, er empfindet seine Identität mit dem Lebensprozess und der Schöpfung.
 
Die grauen Kästen dieses Heftes
Man kann Jungs Konzept der Individuation, in dem die grundlegenden archetypischen Stationen des Lebens und die individuellen und kollektiven unbewussten Dimensionen der Psyche erkundet und integriert werden sollen, als eine moderne Form der Einweihung und Initiation in die Mysterien ansehen, was Jung selbst auch an verschiedenen Stellen nahegelegt hat.
 
Deshalb versuchen wir in den grauen Kästen einige Stufen einer zeitgemäßen „Einweihung“ in die Geheimnisse der Seele zu skizzieren.
Dass wir auch in diesem Hefte immer wieder auf alchemistische Symbolik zurückgreifen, ist der besonderen Vorliebe Jungs geschuldet, den Individuationsprozess immer wieder in Analogie zum alchemistischen „Großen Werk“ zu setzen. C. G. Jung begründet dies so:
 
Es ist [...] eine ebenso schwierige wie undankbare Aufgabe, das Wesen des Individuationsprozesses im einzelnen Falle darzustellen.

Kein individueller Fall meiner Erfahrung ist so allgemein, dass er alle Aspekte aufwiese und damit als übersichtlich gelten könnte. [...]

Die Alchemie hat mir darum den unschätzbar großen Dienst geleistet, mir ihr Material, in dessen Umfang meine Erfahrung genügenden Raum findet, anzubieten und hat es mir dadurch möglich gemacht, den Individuationsprozess in seinen hauptsächlichsten Aspekten zu beschreiben.
Jung, GW 14/2, § 447
 
Die Alchemisten waren sich wohl klar darüber, dass sie das „obscurum per obscurius“, das dunkle Geheimnis oft durch etwas noch Unbekannteres (ihre Symbole) zu verstehen suchten, aber so ist das wohl in den Anfängen aller Wissenschaft und aller Psychologie.
 
Wenn man sich also unbefangen und psycho-symbolisch betrachtend auf die Bilder der Alchemie einlässt und auch nicht erwartet, ganz genau verstehen zu können, was sie nun im Einzelnen konkret bedeuten, kann man manchmal überraschende Parallelen zum Individuationsprozess entdecken und findet dann die Bilder gar nicht mehr so obskur und okkult.
 
So wünschen wir Ihnen ganz herzlich durch die Bilder und Texte dieses Heftes Anstöße zu Ihrem ureigensten Weg der Individuation.
 
Ihre
Anette und Lutz Müller
für das Redaktionsteam