Heft Nr. 46 • Oktober 2021 • SCHWERPUNKT: KOMPLEXE - VOM TEUFEL GERITTEN

Heft 46
Heft 46 xs
 
Inhalt (Auszug):

Lutz Müller: Was zum Teufel ... ist da in mich gefahren? | Wie Dämonen und Schattenseiten unser Leben bestimmen
Bernd Leibig: Neurobiologie und Gravitation der Komplexe
Bernd und Margarete Leibig: Komplexe in der Paarbeziehung oder Die „vier Jahreszeiten“ der Paarbeziehung
Joachim W. Weimer: Rivalität im Beruf – zwischen Angst, Lust am Wettbewerb und Destruktivität
Susanne Gabriel: Pan lebt in unseren Angstkomplexen
Kristina Schellinski: Vom Ersatzkind-Komplex zur Selbstgeburt
Rainer Lemm-Hackenberg: Alfred Adler und die moderne Narzissmustheorie
Alfred Messmann: Mephisto und das Geheimnis des Ego-Komplexes
Gidon Horowitz: „Auch wenn es hart für dich ist …“ Vom Umgang mit einem zerstörerischen Vaterkomplex aus der Sicht eines Märchens
Selina Danisch: Das Spiel mit der Maske – Die Komplexe hinter unserer Persona
Kai Appel: Wandel und Integration von Komplexfeldern
 
FÜR SIE GESEHEN
Dieter Volk: „Green Book – Eine besondere Freundschaft“ | Ein Film von Peter Farelly (2018)
 
GLOSSE
Bernd Leibig: Alte Teufelsaustreibungen und moderne Schuld
 
BERICHTE
50 Jahre C. G. Jung-Institut Stuttgart
 
Editorial:
 
Liebe Leserinnen und Leser,
 
Komplexe und Komplexreaktionen sind allgegenwärtig, auch wenn wir sie gerne verdrängen. Viele von uns kennen sicher eine der folgenden Erfahrungen: Bei einem Gespräch fällt ein bestimmtes Wort, oder es klingt beiläufig ein bestimmtes Thema an, und auf einmal sind wir abgelenkt und verfallen eigenen Gedanken, Fantasien und Gefühlen.
 
Oder es werden in froher Runde Witze gemacht, man ist heiter und ausgelassen, aber bei einem bestimmten Thema ist einem plötzlich „das Lachen vergangen“, man ist peinlich berührt, wird unsicher, verlegen und man kann seine Betroffenheit nur schlecht verbergen. Was ist da passiert?
 
In diesen Fällen wird durch einen bestimmten Reiz – ein Ton, ein Geruch, eine Farbe oder Form, ein Wort, eine Anspielung, eine Situation – unbewusst ein sensibler „wunder“ Punkt oder ein heimliches Interesse angerührt, die vielleicht auf problematische Erfahrungen oder auf unterdrückte Emotionen, Triebe, Wünsche und Sehnsüchte zurückgehen.
 
Plötzlich also wird die Aufmerksamkeit von der gegenwärtigen Situation abgezogen, und es entsteht ein schwächer oder stärker veränderter „geistesabwesender“ Bewusstseinszustand, der je nach Art des ausgelösten Inhaltes als irritierend, erschreckend und blockierend oder als angenehm, lustvoll und faszinierend erlebt wird. Irgendetwas ist plötzlich „in uns gefahren“, hält uns „besetzt“ oder „gefangen“, und erst nach einer Weile können wir wieder einigermaßen in den Normalzustand zurückkehren und klarer denken.
 
Solche dynamischen Elemente der Psyche hat die Tiefenpsychologie „Komplexe“ genannt. Dieser Begriff ist in den alltäglichen Sprachgebrauch eingegangen. Wenn man beispielsweise sagt, dass ein Mensch deutliche „Komplexe“ habe, sind meist sichtbare Unsicherheiten und Hemmungen, Minderwertigkeits- und Versagenskomplexe gemeint.
 
Diese oft angst- und schambesetzten emotionalen Reaktionen können dazu führen, dass sich Betroffene unfrei fühlen und nicht recht wissen, was sie tun können, um sich von ihrer Macht zu befreien. Gleichzeitig möchten sie nicht, dass andere ihnen diese Reaktion anmerken, weil sie damit ja offenbaren, dass in ihnen etwas geschieht, worüber sie keine Kontrolle haben und was sie verborgen halten wollen. Sie werden versuchen, rasch auf ein anderes Thema abzulenken oder die Situation mit einem guten Vorwand zu verlassen.
 
Aus solchen unangenehmen Erfahrungen könnte man ableiten, dass Komplexe hauptsächlich negativ getönte Störfaktoren sind. Aber es gibt durchaus auch positiv erlebte Komplexreaktionen, die mit der Befriedigung unserer Grundbedürfnisse und Interessen, mit Lust und Leidenschaft, Euphorie, Faszination und Be-Geisterung verbunden sind.
 
Denken wir nur an unsere Verliebtheiten! Sie können uns für längere Zeit in ihren Bann ziehen, uns „verzaubern“ und das weitere Leben tiefgreifend bestimmen. Menschen können von einem anderen Menschen, einem Tier, einem Objekt (z. B. Auto), einer Idee, ihrer Arbeit, einem Hobby, einer Leidenschaft oder Sucht wie „besessen“ sein oder von ihnen „aufgefressen“ werden und sind in diesen Phasen für ihre Mitmenschen kaum richtig erreichbar. Sie leben wie in einer anderen Welt, sprichwörtlich in einem geheimnisvollen „siebten Himmel“.
 
Komplexreaktionen sind also keine seltenen Ausnahmen im psychodynamischen System. Im Gegenteil, sie sind normale psychoneuronale Verschaltungen, Automatismen, „Sub-Programme“, Erlebens- und Verhaltensschemata, die das menschliche Erleben und Verhalten sowohl in gesunder als auch in krankhafter Hinsicht weitgehend bestimmen.
 
Ihr Ablauf entspricht der Funktion unseres unbewussten, assoziativ arbeitenden Gehirns, das fortwährend bemüht ist, uns sicher in der Welt zu orientieren. Bei Dingen, mit denen wir unangenehme Erfahrungen gemacht haben, reagieren wir natürlicherweise mit Abwehr und Vermeidung, bei angenehmen Erfahrungen mit Interesse und Annäherung.
 
Viele Komplexfelder entfalten ihren Einfluss nur auf unbewusste Weise. Das psychoneuronale System (Psyche/Gehirn) unterhält sich gewissermaßen mit sich selbst, organisiert sich selbst, lenkt die Aufmerksamkeit und das Interesse einmal hier- und einmal dorthin, lässt Ideen, Gedanken, Einfälle auftauchen oder erzeugt unmerkliche Stimmungsveränderungen. Wir werden von unseren Komplexen sehr subtil gesteuert und weit mehr, als wir üblicherweise ahnen.
 
Andere Komplexe können mit elementarer Gewalt hervorbrechen und stärkste Affekte, Fehlleistungen, Kurzschlusshandlungen und psychische Störungen hervorrufen. Bei diesen heftigen Komplexreaktionen („Komplexexplosionen“), bei denen man sich nicht mehr „im Griff“ hat und sich später fragt, was da mit einem passiert ist, haben Menschen früherer Kulturen manchmal geglaubt, sie seien von einem bösen Fluch oder Zauber oder von einem Geist, Dämon oder Teufel besessen.
 
C. G. Jung war einer der Pioniere der Psychologie, der versucht hat, die Komplexstruktur der Psyche und damit auch die Existenz unbewusster Dynamiken experimentell zu belegen (Assoziationsexperiment). Während Freud zunächst noch die Arbeit mit den Träumen als „via regia“, als Königsweg zum Unbewussten, angesehen hatte, entwickelte Jung die Auffassung, dass der Königsweg eher über die Komplexe führe, denn diese würden sich zwar auch in unseren Träumen symbolisieren und das Traumgeschehen bestimmen, aber eben nicht nur in unseren Träumen, sondern auch in unserem sonstigen Erleben und Verhalten.
 
Die therapeutische Arbeit mit Komplexen – die im Grunde in vielen Therapien stattfindet, auch wenn sie nicht tiefenpsychologisch orientiert sind – hat damit den Vorteil, dass sie auch dann möglich ist, wenn man sonst keine andere Arbeit mit dem „Unbewussten“ machen kann oder will.
 
Lebensskripte
Es gibt, wie oben beschrieben, relativ kurzfristige Komplexreaktionen, aber auch komplexhaft aufgeladene Themen, die unser Schicksal wie ein unbewusster Plan zeitlebens bestimmen können.
 
Der österreichische Arzt und Psychotherapeut, Begründer der Individualpsychologie, Alfred Adler hat als erster in der von ihm konzipierten Individualpsychologie beschrieben, wie beispielsweise ein Minderwertigkeitskomplex zu oft ganz unbewussten Leitlinien, einem grundlegenden Lebensstil beitragen kann, z. B. „Ich muss der Sieger sein und immer Erfolg haben“ oder „Ich muss die Verantwortung tragen und ganz für andere Menschen da sein“ oder „Ich bin hilflos, schwach und krank.“
 
Der Versuch, das Minderwertigkeitsgefühl durch besondere Anstrengungen auszugleichen und zu kompensieren, kann zwar zu wertvollen Entwicklungen führen, aber auch zu einer Überkompensation im Sinne eines zu starken Geltungs-, Überlegenheits- und Machtstrebens mit letztlich destruktiven Auswirkungen auf den Einzelnen und die Gemeinschaft (vgl. dazu den Beitrag von Rainer Lemm-Hackenberg in diesem Heft).
 
Neuere psychologische Richtungen, die das Thema der komplexbedingten Lebensskripte aufgegriffen und weiterentwickelt haben, sind z. B. die Transaktionsanalyse von Eric Berne, die kognitive Verhaltenstherapie oder die Schema-Therapie von Jeffrey Young.
 
Viele dieser komplexbedingten Muster werden zu so festen Persönlichkeitsstrukturen und Lebensformen, dass sie sich später auch kaum oder gar nicht mehr verändern lassen. Im besten Fall kann man dann durch Einsicht lernen, gelassener und besonnener mit ihnen umzugehen.
 
So hoffen wir, dass dieses Heft dazu beiträgt, dass wir uns bewusster, achtsamer und freundschaftlicher mit unseren Komplexen und Komplexthemen auseinandersetzen.

Für das Redaktionsteam
 
Ihre Anette und Lutz Müller