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Heft 37: Visionen

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Heft 37
 
 März 2017 • SCHWERPUNKT: VISIONEN
Inhalt:
Ingrid Riedel: Die Gabe der Schau bei Hildegard von Bingen
Patrizia Heise: Die Visionssuche – Faszination eines Rituals
Rolf Kaufmann: Die Vision im Verständnis der Tiefenpsychologie
Horst Obleser: Nikolaus von Flüe – Visionen auf dem Individuationsweg
Ilke Bohleber: Visionen – Transpersonale Erfahrungen
Paul Bishop: Visionen von C. G. Jung im Roten Buch
Dieter Knoll: Hoffnung – ins Gelingen verliebt
Michael Habecker: Rettet Psychologie die Welt?
Sabine Bobert: Glückseligkeit als Vision für den Alltag
Hans Dürr: Eine Vision zeigt Wirkung - Oicocredit als Beispiel für mehr Gerechtigkeit für die Armen
 
FÜR SIE GESEHEN
Dieter Volk: „Fitzcarraldo“ oder ein Eroberer des Nutzlosen
 
Leseprobe:
 
Liebe Leserinnen und Leser,
 
eine Vision (lateinisch visio, Erscheinung, Anblick) ist ein inneres, meist bildhaftes Erleben, das als real aufgefasst wird, obwohl es sinnlich nicht direkt wahrnehmbar ist. Wenn Höreindrücke auftreten, spricht man auch von „Audition“. In traditionellen religiösen und spirituellen Zusammenhängen wird eine Einwirkung von Mächten und Kräften außerhalb des Visionärs angenommen. Unter Visionen versteht man heute aber auch innovative Zukunftsvorstellungen, kühne, mutige, kreative, oft fantastisch erscheinende Entwürfe und Konzepte für die weitere Entwicklung einer Organisation, einer ganzen Gesellschaft und Kultur.
 
Visionen, seien es religiös-spirituelle Bilder oder zukunftsbestimmenden Vorstellungen und Ideen, die einzelne Menschen oder ganze Nationen hervorgebracht und verfolgt haben, scheinen das Gefährlichste und das Großartigste in der Bewusstseinsevolution der Menschheit zu sein. Manche der wichtigen Entdeckungen, Erfindungen und Bewegungen geschahen „zufällig“, andere aus einer impliziten Not-Wendigkeit heraus und andere, weil sie auf Menschen trafen, die für sie empfänglich und waren und sich mit ihnen identifizieren konnten.
 
Was waren die „Meilensteine“ der kulturellen Menschheitsentwicklung? Z. B. die Entdeckung des Feuers, des Rads, der Waffen und Werkzeuge, die Sprache, das Denken, die Kommunikation, die Kunst, die Schrift, das Rechnen, das Buch, Ackerbau und Viehzucht, religiöse, wissenschaftliche und gesellschaftliche Systeme und Utopien, Imperialismus, Kriege, Maschinen, die Elektrizität, die Uhr, Gummi und Kunststoffe, Fahrzeuge und Flugzeuge, Telefon, Rundfunk, Fernsehen, Atomenergie, Raumfahrt, Genetik, Sonnenenergie, Computer, Robotik, Internet und virtuelle Welten...
Alle diese Entwicklungen waren mehr oder weniger motiviert durch und begleitet von Visionen, aber auch von immensem Leiden, von Verrücktheit, Narzissmus, Machtstreben und Größenwahn, von Risiken und Katastrophen.
 
Woher stammen Visionen? „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ meinte der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt auf die Frage, was denn seine Vision sei. Diese Einstellung passt zur nüchternen rationalen Art und Weise seines Denkens, aber auch zur Meinung vieler heutiger Menschen.
 
Tatsächlich ist aus psychiatrischer Sicht sehr wahrscheinlich, dass einige der bekannten Visionäre der Geschichte unter psychischen Störungen (z. B. narzisstischen Größenfantasien, Psychopathie), psychotischen (z. B. Schizophrenie, Manie) oder hirnorganischen Erkrankungen (z. B. Schläfenlappenepilepsie, Syphilis) litten. Das sagt aber nichts über die Bedeutung und Wirkung ihrer Visionen aus, zumal zwischen Genie und Wahnsinn oftmals nur ein schmaler Grat verläuft. Wahrscheinlich muss man etwas „ver-rückt“ sein, um dem sozialen Anpassungsdruck etwas Eigenes und Neues gegenüber zu behaupten.
 
Positiv gesehen sind Visionen auch der Ausdruck einer erstaunlich kreativen Fähigkeit der Psyche, welche alles einsetzt, um zu überleben, welche immer bereit ist zum Fantasieren, Spielen, Experimentieren, Kämpfen, bereit zum Erweitern innerer und äußerer Territorien, immer sehnsüchtig auf der Suche nach dem „Stein der Weisen“ und dem ewigen Leben.
 
Nach tiefenpsychologischer Auffassung sind Visionen Einbrüche unbewusster Inhalte ins Bewusstseinssystem als Ausdruck selbstregulativer Prozesse, oft auch mit kompensatorischer Funktion, d. h. sie versuchen Einseitigkeiten und Inkonsistenzen des Gesamtsystems auszugleichen. Wenn ein Mensch oder eine Gesellschaft aus dem Gleichgewicht geraten ist und neue Entwicklungsschritte erforderlich werden, treten psychische Gegenreaktionen auf, beispielsweise in Form heftiger affektiver Reaktionen, Symptomen oder eben auch Visionen, die meist auch einen archetypischen Kern haben.
 
Alle stärksten Ideen und Vorstellungen der Menschheit gehen auf Archetypen zurück. Besonders deutlich ist dies bei religiösen Vorstellungen der Fall. Aber auch wissenschaftliche, philosophische und moralische Zentralbegriffe machen davon keine Ausnahme.
Jung, GW 8, § 342
 
Archetypen waren und sind seelische Lebensmächte, welche ernst genommen sein wollen und auf die seltsamste Art auch dafür sorgen, daß sie zur Geltung kommen. [...] Sie sind nämlich auch die unfehlbaren Erreger neurotischer und sogar psychotischer Störungen, indem sie sich genau so verhalten wie vernachlässigte oder mißhandelte Körperorgane oder organische Funktionssysteme.
Jung, GW 9/1, § 266
 
Archetypische Motive und Dynamiken reichen vom Tiefsten bis zum Höchsten. Einerseits sind sie etwas ganz „Normales“, Selbstverständliches, Alltägliches, sogar Banales. Andererseits können sie mit starken Emotionen, mit Faszination, dem Gefühl der „Numinosität“ und Spiritualität verbunden sein. Den Begriff „Numinosität“ verwendet C. G. Jung in Anlehnung an den Religionswissenschaftler Rudolf Otto für psychische Erfahrungen, die auf den Betreffenden eine geheimnisvolle, anziehende, kraftvolle Macht ausüben. Numinose Erfahrungen lassen den Menschen erzittern, erbeben, erschauern, erzeugen in ihm Ehrfurcht, können ihn zugleich verzaubert, wie behext oder auch „besessen“, beglückt, verzückt, entrückt machen und ihn in Ekstase versetzen. Sie scheinen besonders dann eine tiefgreifende Wirkung zu haben, wenn sie für einen Menschen oder für eine Kultur erstmals und ganz neu ins Bewusstsein treten.
 
Ein Beispiel dafür ist die Faszination, die die stark erregende, angstmachende wie auch befreiende Wirkung der sexuellen Aufklärung durch Freud und die Psychoanalyse ausübte, die den Menschen erlaubte, sich wieder mit etwas anzufreunden, was früheren Menschen oder Menschen anderer Kulturen kein besonderes moralisches Problem war.
 
Ein anderes Beispiel ist die Fantasie der reinen Lichtgestalt des arischen Übermenschen im sogenannten Dritten Reich.
Solche Fantasien von Besonderheit, Grandiosität und Gottähnlichkeit sind an sich nichts Bemerkenswertes, finden sie sich doch ganz ursprünglich in allen Kinderseelen, auch in allen Religionen. Wenn allerdings solche archetypischen Faktoren in veränderten Bewusstseinszuständen oder nach Zeiten längerer Unterdrückung wieder durchbrechen, sich neu „konstellieren“, können sie aufgrund der Faszination und Numinosität zu einer „Inflation“ und zu einer unbewussten Identifikation mit ihnen führen, d. h. man empfindet, dass sie so etwas wie absolute und letzte Wahrheiten darstellen.
 
Sie haben dann einen kaum zu erschütternden Überzeugungs- und Gewissheitscharakter, und sie erscheinen als das Wichtigste und Wesentlichste, um das es im Leben geht. In ihrer überwertig wahnhaften Dynamik können sie große Menschenmengen infizieren und ihnen das Gefühl größter Bedeutsamkeit vermitteln.
 
Solche Infektionen mit archetypischen Ideen können natürlich umso leichter geschehen, je mehr die Menschen kommunikativ miteinander verbunden sind. Zu diesem Zweck führten die Nationalsozialisten den sogenannten „Volksempfänger“ ein. Das ganze Volk sollte die Visionen des Führers vom zukünftigen „arischen“ Menschen und dem „Tausendjährigen Reich“ empfangen und teilen.
Heute spielen die Massenmedien (Fernsehen, Internet) weltweit eine noch viel größere Rolle, deren Auswirkungen im Positiven wie im Negativen bislang noch unabsehbar sind.
 
Die positiven Auswirkungen von Internetplattformen wie Google, Wikipedia, Facebook, Instagram und Twitter zeigen sich beispielsweise darin, dass fast alles beschreibbare Wissen fast allen Menschen zugänglich werden kann und neue Ideen, gesellschaftliche und politische Ereignisse rasend schnell, fast zeitgleich um den Erdball herum kommuniziert werden können.
 
Die inzwischen schon sehr deutlich gewordene Kehrseiten davon sind zunehmende Reizüberflutung, Stress, „Cybermobbing“, oder die Gefahr, dass sich auf diesem Wege paranoide Ängste, Fremdenhass, Terrorismus, Verschwörungs- und Weltuntergangsfantasien ausbreiten könnten.
 
Die gigantischen Katastrophen, die uns bedrohen, sind keine Elementarereignisse physischer oder biologischer Natur, sondern psychische Ereignisse. Uns bedrohen in schreckenerregendem Maße Kriege und Revolutionen, die nichts anderes sind als psychische Epidemien. Jederzeit können einige Millionen Menschen von einem Wahn befallen werden, und dann haben wir wieder einen Weltkrieg oder eine verheerende Revolution.
Jung, GW 17, § 302
 
C. G. Jung sah als Gegenmittel gegen die Gefahren der Inflation der Menschen mit destruktiven psychischen Inhalten, die Individuation des Einzelnen, die zunehmende Bewusstheit über die psychischen Kräfte, insbesondere auch den „Schatten“.
Um aber nicht bei dem Negativen der Visionen stehen zu bleiben: Visionen haben die Evolution natürlich auch in positiver Hinsicht intensiv vorangetrieben. Visionäre Persönlichkeiten besitzen neben den beschriebenen problematischen Seiten eben oft auch eine starke Kreativität, Fantasie und Intuition, Ausdauer und Beharrlichkeit, die Fähigkeit, Rückschläge und Kritik auszuhalten und oft auch Glück, das Glück, dass sie zur rechten Zeit, am richtigen Ort mit der richtigen Idee sein lässt.
 
Natürlich hat es immer auch Gegenvisionäre gegeben. So meinte Kaiser Wilhelm II., König von Preußen, dass das Auto nur eine vorübergehende Erscheinung sei, Lord Kelvin bezweifelte, dass Maschinen, die schwerer als Luft sind, jemals fliegen könnten, Thomas Watson, Vorsitzender von IBM, schätzte 1943, dass der Computer keine besondere Zukunft habe und es kaum einen Markt dafür gebe und John v. Neumann, Mathematiker, glaubte 1949 bereits die Grenzen der Computertechnologie erreicht zu haben.
 
Offenbar ist unser beschränkter Geist sehr oft nicht fähig, das sich anbahnende wirklich Neue zu erkennen, zu fürchten oder zu fördern.
So wünschen wir Ihnen und uns, dass wir uns der Vision einer umfassenden Dankbarkeit und Liebe für die Schöpfung, wie sie durch das Bild auf der ersten Seite dieses Heftes gezeigt wird, immer wieder neu öffnen können – trotz allem und mit allem, was sie uns schenkt und zumutet – und wir darin Sinn und Aufgabe finden.

Ihre
Anette und Lutz Müller
 
 
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