Heft 22: Um Himmels Willen
Auf der Suche nach einer zeitgemäßen Spiritualität
- Willy Obrist: Die Evolution des Bewusstseins und neue Religiosität
- Murray Stein: Die dunkle Seite Gottes und das „Mysterium Coniunctionis“ | C. G. Jungs „Antwort auf Hiob“
- Brigitte Dorst: Weibliche Spiritualität
- Christiane Monshausen: Das heilige Bett fehlt! | Anstößige Gedanken zur Überwindung eines noch immer vorhandenen Tabus
- Hans Jellouschek: Paarbeziehung, Sexualität und Spiritualität
- Margarete Leibig: Kinder und Spiritualität
- Ursula Bernauer: Engel – eine archetypische Kraft
- Helmut Hark: Energetik des Segens
- Eckhard Frick: Spiritual Care und Analytische Psychologie
- Willigis Jäger: Westöstliche Spiritualität. | Das Gemeinsame der mystischen Wege
- Torsten Passie: Drogen und Transzendenz
- Hansjörg Hemminger: Sektierer, Schwärmer, Satanisten. | Religiöse Problemlagen in der Jugendkultur
- Wolfram Frietsch: Die mystische Hochzeit in Hermann Hesses „Steppenwolf“
- Bernd Leibig: Ökonomische Krise und gelingender Therapieprozess (Glosse)
Editorial:
Auffassungen von Spiritualität
- Archaisch-magisch-mythischer Glaube an Phänomene wie Prophetie, Hellsehen und Telepathie, an magische oder okkulte Fähigkeiten, wie z. B. Aura-Sehen, an Wunder und Wunderheilungen. Glaube an ein Jenseits und seine Bewohner, an Geister, Dämonen, Engel, Teufel, die Seelen Verstorbener und sonstige Wesenheiten. Bemühungen, mit Hilfe von Ritualen, Opferhandlungen, Gebeten und Gesängen, Exerzitien, Imaginationen, Visualisationen, Trancezuständen und asketischer Lebensführung (bis hin zur Selbstschädigung) mit diesen Wesenheiten und Göttern in Kontakt zu treten, Weisungen von ihnen zu erhalten und sie günstig zu stimmen.
- Leben nach „gottgegebenen“ Vorschriften und Regeln.
- Numinose, „Große Erfahrungen“ und Erleuchtungszustände in veränderten Bewusstseinszuständen, in Visionen und Träumen, in Grenz-, Krisen- und Krankheitszuständen oder auch in Todesnähe, oft von Propheten, Sehern und Religionsstiftern berichtet.
- Beziehung zum „wahren“, „inneren Selbst“, zum „Wesen“ oder zur „Mitte“, die verbunden oder sogar identisch sind mit dem universellen Sein, oft mit der Vorstellung, das Erleben eines „Ich“ oder eines „Ego“ als Verursacher und Macher des psychischen Prozesses müsse überwunden oder zumindestens relativiert werden.
- Leben in Übereinstimmung mit dem „Großen Leben“, dem „Großen Sinn“, dem absoluten Sein, dem Fluss des Lebens (vgl. z. B. Taoismus).
- Offene, achtsame und akzeptierende Beziehung zur „Istigkeit“ und zum So-Sein des jeweiligen Augenblicks, wie er sich jeweils gerade vollzieht, oft mit der Entwicklung eines „Inneren Beobachters“ oder „Inneren Zeugen“, der alles wahrnimmt und erlebt, ohne sich zu identifizieren.
- Ich-Selbst-Transzendierung bzw. Loslassen aller Bindungen, Bedürfnisse und Bestrebungen, Überwinden der Leid verursachenden Faktoren, Freiwerden von Anhaftungen und Verlöschen im Nirvana (vgl. z. B. Buddhismus).
- Streben nach Erkenntnis, Wahrheit und Weisheit.
- Philosophisches Staunen über das Mysterium der Existenz, eine „kosmische“ Religiosität, wie sie manche Wissenschaftler formuliert haben, z. B. Albert Einstein oder Erwin Schrödinger.
- Güte, Barmherzigkeit, Mitgefühl, liebende Verbundenheit mit der Ganzheit der Existenz, der Natur und den Lebewesen.
- Entfaltung eines „non-dualen“ Bewusstseins, das Erahnen der „Einheitswirklichkeit“, die Vereinigung der Polaritäten, die „Coincidentia“, „Complexio“ oder „Unio“ oppositorum“, das „Mysterium coniunctionis“, wie es von den Mystikern und von C. G. Jung genannt wird und wie es sich beispielsweise im Mandala symbolisiert.
- Psycho-symbolische und integrale Perspektive der Analytischen Psychologie.
Die psycho-symbolische Perspektive der Spiritualität kann die beschriebenen religiösen Phänomene umfassen, indem sie sie grundsätzlich als Ausdruck psychischer Prozesse ansieht, die immer auch symbolischen Charakter haben. Götter, Geister und Dämonen werden unter dieser Perspektive als archetypische und/oder komplexhafte Anteile der Psyche verstanden und „Jenseits“- Vorstellungen beziehen sich dann auf Bereiche des (kollektiven) Unbewussten. Aus Magie, Ritual, Gebet und Meditation werden Zugangsweisen zum (transpersonalen) Unbewussten bzw. Methoden zur Bewusstmachung von Unbewusstem und zur Bewusstseinsdifferenzierung. Die traditionellen religiösen Systeme werden somit als psychotherapeutische und psycho-symbolische Vorläufer des Individuationsprozesses mit dem Ziel der Bewusstwerdung der Einheit und Ganzheit des Selbst interpretiert. Metaphysische Aussagen über das „Sein an sich“, wie es „wirklich“ ist, werden nicht gemacht. Das zwingt die menschliche Hybris„ alles wissen zu wollen“ zur Bescheidenheit, eröffnet andererseits durch diese Offenheit und Unbestimmtheit einen unendlichen, kreativen Entfaltungsraum. Möglicherweise oder sehr wahrscheinlich ist die unerkennbare Wirklichkeit „hinter allem“ viel großartiger und fantastischer, als wir jemals ahnen und hoffen können.
Liebe Leserinnen und Leser,
Freud sprach seinerzeit von drei großen Kränkungen, die die modernen Wissenschaften der Menschheit zugefügt haben. Er meinte damit die kopernikanische Wende, die Entdeckung der Evolution und die Erforschung des Unbewussten. Danach steht der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt des Universums, er kann sich nicht mehr als eine göttliche Sonderschöpfung sehen, sondern befindet sich in engster Verwandtschaft mit den Tieren und dem ganzen evolutionären Prozess, und er wird in seinem Erleben und Verhalten von Kräften bestimmt, die ihm weitgehend unbewusst sind. Diese letzte Kränkung, nicht einmal „Herr im eigenen Hause“ zu sein, wird in den letzten zwanzig Jahren verschärft durch die Neurowissenschaften, die unsere Vorstellungen vom Menschen und seiner Psyche noch einmal radikal verändern.
Von diesen Kränkungen sind natürlich auch in hohem Maße die traditionellen religiösen Glaubenssysteme betroffen. Stärker als je stellen wir Fragen: Was wollen wir unter einer religiösen Dimension heute eigentlich verstehen? Gibt es das Spirituelle und Religiöse, auf das sich die traditionellen religiösen Systeme beziehen, überhaupt? Sind deren Glaubensüberzeugungen, Dogmen, Rituale und Methoden noch hilfreich? Wie lässt sich der Widerspruch zwischen einer naturwissenschaftlichen Einstellung, die wir heute insbesondere mit Quanten- und Astrophysik, Evolution, Genetik, Neurowissenschaften, Tiefenpsychologie verbinden, und einer religiösen Einstellung überwinden? Und, falls wir darauf eine einigermaßen befriedigende Antwort nnden: Was könnten dann Formen und Methoden einer zeitgemäßen Religiosität sein?
Innerhalb der Analytischen Psychologie stehen diese Fragen ganz im Zentrum des Interesses. C. G. Jung hatte früh – insbesondere auch durch eigene numinose Erfahrungen und Träume – die Auffassung gewonnen, dass die „göttliche“, transpersonale Dimension (wobei sein Gottesbegriff kein theologischer oder konfessioneller ist) das Leben des Menschen tiefgreifend bestimmt, ob es ihm nun bewusst ist oder nicht. Die archetypischen Faktoren in der Psyche, die der Mensch im magisch-mythischen Bewusstseinsstadium ins Jenseits oder an den Himmel projizierte, sind mit der Entwicklung eines aufgeklärten, rationalen Bewusstseins keineswegs verschwunden. Jung betonte immer wieder: Sie werden nur nicht mehr als Gott oder Götter bezeichnet. Sie bleiben aber mächtige, schicksals-bestimmende Faktoren in der Psyche, die umso autonomer wirken, je unbewusster sie sind. Sie sind „gerufen und nicht gerufen“ immer präsent. Wenn sie keine zeitgemäße Form und keinen zeitgemäßen Ausdruck im Einzelnen wie in der Gesellschaft finden, dann zeigen sie sich in regressiven Phänomenen wie fundamentalistischen und radikalen Strömungen, mythischen Auffassungen oder in pathologischen Formen.
Ganz sicher war es eines von Jungs Hauptanliegen, dem Einzelnen und der Gesellschaft diese dynamische, schöpferische wie zerstörerische Wirkung der archetypischen Kräfte bewusst zu machen. Die in diesem Sinne gemeinte religiöse Dimension sollte einen angemessenen und konstruktiven Ort in unserem Leben finden. Vor allem sollten auch jene Seiten, die in den traditionellen, meist patriarchal organisierten religiösen Systemen unterdrückt und „verteufelt“ wurden,
integriert werden: unsere materiellen, erdhaften, körperlichen und triebhaften Seiten, das Schattenhafte, Dunkle und Destruktive und das weibliche Prinzip.
Jung sah in der Entwicklung eines ganzheitlichen Bewusstseins und einer integralen Persönlichkeit, wie sie sich z. B. im Mandala symbolisieren, die lebenslange Aufgabe der Individuation. Bei allem wollte er aber keine definitive Aussage darüber machen, um was es sich bei der religiösen Dimension „wirklich“ handelt. Das seien metaphysische Aussagen, für die er sich als Psychologe aus erkenntnistheoretischen Gründen nicht zuständig hielt. Jung nimmt damit eine für seine Zeit sehr moderne Position ein. Man kann sie als psycho-symbolische Perspektive bezeichnen. Psycho-symbolisch heißt erstens: Wir können immer nur in den Möglichkeiten und Grenzen unserer Psyche fühlen, denken, erleben und handeln. Unsere psychischen Voraussetzungen – oder mit den Worten der Neurowissenschaften: Die Art und Weise, wie das Gehirn eben funktioniert – bestimmt unser Selbst- und Welterleben und unser Verhalten.
Eng damit verbunden heißt psycho-symbolisch zweitens: Psychisches Erleben hat neben dem konkreten Aspekt immer auch symbolischen Charakter. Da wir die „wirkliche Wirklichkeit“ „hinter“, „unter“ oder „über“ nicht erkennen können, sind alle unsere Sinneswahrnehmungen, Gedanken, Begriffe, Emotionen, Fantasien und Bilder letztlich symbolische Versuche, uns eine Orientierung in einer unbekannten komplexen Welt zu ermöglichen. Und damit haben natürlich auch alle unsere religiösen Vorstellungen immer nur einen vorläufigen, zeitbedingten, sich fortwährend wandelnden symbolischen Charakter. Sie sind, wie Jung es 1956 in einem Brief schrieb: "Anspielungen,…deuten auf etwas hin, ... sind … Bemühungen, das nicht zu Beschreibende zu formulieren, … sind … Ausdruck der Erfahrung eines unaussprechlichen Mysteriums und eine Antwort darauf." (Jung, Briefe 3, S. 14/15)
Wenn man die Ansätze der Analytischen Psychologie berücksichtigt, dann ergeben sich daraus als Forderungen an eine zeitgemäße Spiritualität:
- Eine zeitgemäße Spiritualität anerkennt die Dimension des schöpferischen Unbewussten bzw. selbstregulativer unbewusster Steuerungsprozesse und deren evolutionär-genetisch archetypische Grundlage.
- Sie geht von einer psycho-symbolischen Perspektive aus.
- Sie berücksichtigt unterschiedliche Stufen der Entwicklung des Bewusstseins und deren Ausdrucksformen des Religiösen (z. B. magische, mythische, naturwissenschaftliche, integrale, nonduale), wie sie u. a. von Jean Gebser, Erich Neumann, Willy Obrist und Ken Wilber beschrieben werden (vgl. Seite 4).
- Sie bemüht sich um eine integrative bzw. „mandalaische“ Perspektive, die die zugrundeliegenden universalen archetypischen Strukturen sieht wie auch deren fortwährende Wandlung begrüßt.
- Religion, Kunst, Philosophie und Wissenschaft schließen sich in einer solchen integralen Perspektive nicht aus, sondern bilden verschiedene Zugangsweisen zu dem großen„Mysterium“, das uns hervorbringt, trägt und das wir vom Wesen her sind.
Religiöse bzw. spirituelle Modelle und Vorstellungen, die auf dieser Basis entstehen und verstanden werden, könnten den großen, bedrohlich-faszinierenden Herausforderungen, denen wir uns heute in religiöser, gesellschaftlicher und ökologischer Hinsicht stellen müssen, eine neue Orientierung geben und unserem Leben seinen besonderen Wert und seinen tieferen Sinn vermitteln.
Wir hoffen, dass Sie in den Beiträgen dieses Heftes Anregungen zu einer so verstandenen zeitgemäßen Spiritualität finden können und grüßen Sie ganz herzlich
Ihre
Anette und Lutz Müller
Für das Redaktionsteam